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Hans-Joachim Löwer

Die Welt zu Füßen

Leseprobe

Tour mit Hermann Biner

Der Glaube, heißt es, kann Berge versetzen. Wenn dem nur so wäre! Uns wäre ja schon geholfen, wenn er nur die Wolken wegfegen könnte, die sich finster vor unseren Fenstern wölben. Sie rauben uns zunächst mal die Sicht – und möglicherweise gar die letzte Hoffnung.[...]

Ein nahezu ortsfestes Tief, ein graues Nebelgebräu, kaum mehr als 15 Grad sind es drunten in Zermatt. Das Zinalrothorn haben wir uns gleich aus dem Kopf geschlagen und stattdessen einen Gipfel ausgesucht, der eine Nummer kleiner ist: den Pollux, zwar auch 4.092 Meter hoch, aber deutlich leichter und schneller zu erreichen – wenn das Wetter wenigstens halbwegs mitspielt.

Hermann Biner tastet sein Smartphone nach drei meteorologischen Diensten ab. Zwei sagen, morgen kommt ein Gewitter am Nachmittag, einer prophezeit es schon für den Vormittag. Ein Gewitter wäre das Letzte, was wir hier oben brauchen können, die Felsen stecken voller Metall und unsere Ausrüstung auch. „In den Schweizer Bergen“, sagt der Führer, „sind schon mal an einem einzigen Tag elf Leute vom Blitz erschlagen worden.“ Na dann gute Nacht, denke ich, während es draußen allmählich dunkel wird.

„Wir sollten uns nicht schon am Tag vorher Sorgen machen“, sagt Biner. „Ich sorge mich erst dann, wenn ich das Problem vor der Nase habe. Sonst läuft man Gefahr, gleich zwei Mal zu sterben.“ [...]

Um vier Uhr früh starren wir beide hinaus in das Dunkel. „Da blinken Sterne“, sagt Biner, „das heißt klarer Himmel.“ Er nickt kurz und reckt den Daumen nach oben. Nachdenklich packen wir unsere Sachen. „Wir gehen, solange wir die aufziehenden Wolken kontrollieren können“, höre ich den Führer sagen. „Erst wenn wir ganz von ihnen umgeben sind und die Gewitterbildung nicht mehr abchecken können, haben wir keine Chance mehr. Dann gibt es nur die Umkehr und sonst nichts.“

Ein kleiner Türspalt, wir stehen draußen, bei geschätzten sechs bis acht Grad unter null – und trauen unseren Augen nicht: Wir tappen durch knirschenden Pulverschnee, an die 30 Zentimeter hoch. Offenbar hat es die ganze Nacht geschneit, während wir im Schlummer lagen. Kein Wetterdienst hatte das so prognostiziert, und keiner von uns beiden hatte damit gerechnet. „Nun hast du eine Wintertour“, brummt Biner. Knotet das Seil und hängt es an meinem Klettergurt ein. Wir knipsen unsere Stirnlampen an und stapfen mutterseelenallein hinaus in die Nacht.

Was soll nun werden? Ich folge dem Rat des Führers und lasse den Gedanken nicht an mich heran. Besser, du hältst das Seil straff und folgst genau seinem Schritt, denn ich weiß, vor uns warten Hunderte von Gletscherspalten. [...]

Wir steigen über den Breithornpass, laufen südlich an den Viertausendern entlang, die sich hinüber bis zum Monte-Rosa-Massiv ziehen. [...] Die Hänge werden steiler, das Eis zerrissener. Biner stockt und stochert im Licht der Stirnlampe, tastet mit seinem Stock nach der Gefahr. Wo er eine Spalte entdeckt, zieht er eine Linie quer zur Spur. „Hier musst du einen großen Schritt machen“, ruft er. Und schon streift mein Auge den Abgrund, der sich drohend vor uns auftut. [...]

Es ist sieben Uhr, wir sind seit zweieinhalb Stunden unterwegs. Nun stehen wir vor einer Kanzel, die eigentlich der Beginn der Kletterei zum Gipfel wäre. „Lass uns ein bisschen üben“, sagt Biner. „Mal sehen, wie weit es geht. Bis ganz oben werden wir wohl nicht kommen, dafür liegt einfach zu viel Schnee.“

Da stehe ich und starre auf die zugeschneiten Felsen, und ich ahne, was mir bevorsteht. Der Führer wird, wie die Putzfrau eine Treppe, jedes Stück Stein mit den Händen freifegen müssen, um überhaupt Tritte und Griffe zu schaffen. Die Brocken werden aber nie ganz frei von Flocken, und der Rest, der liegen bleibt, macht sie glatt und schwer berechenbar. Sehr bald schon wird es nicht mehr anders gehen, als Steigeisen anzuziehen, um mit kratzenden, kreischenden Zacken über vereiste Platten zu kommen. Das wird, so sage ich mir, alles nur eine elende Rutscherei, bei der du nie gut aussehen kannst.

„Ehrlich gesagt, ich hasse Schnee auf Felsen“, bricht es aus mir heraus. „Da nützt mir doch die beste Technik nichts – ich habe nie einen sicheren Schritt.“

„Es ist deine Entscheidung“, sagt er. „Wenn du mich fragst – ich würde einfach so lange steigen, bis es wirklich nicht mehr geht. Aber du sollst dich ja gut dabei fühlen.“

„Nein, Hermann, sorry, lass uns umkehren“, lautet meine Antwort. „Ich weiß, das Weitergehen macht mir keinen Spaß. Und es bringt mir auch keinen großen Erkenntnisgewinn.“

Er rollt das Seil wieder auf, das er schon ganz kurz gefasst hatte. Nun ist nicht nur das Zinalrothorn, sondern auch der Pollux gestorben. Es hat einfach nicht sollen sein, gegen das Wetter ist nichts zu machen, und das Scheitern mag ich nun auch nicht bis zum letzten Winkel auskosten. [...]

Die Welt zu Füßen
Prezzo Online:Euro 12,90
Base price with tax
Prezzo Copertina: Euro 12,90
Broschur
208 Seiten | 17,7 x 24,9 cm
ISBN: 978-88-7283-524-1