Prolog (Auszug)
Es kommt vor, dass man im Schlaf sich dem Tod nahefühlt. Und mit dem Tod kannte er sich aus. Das war sein Thema, ein Leben lang. Nicht aber er selbst, sondern seine Patienten, die er Klienten nannte, hatten darin Erfahrung. Die Kollegen bezeichneten sie als UO samt Nummer. UO stand für Untersuchungsobjekt, was allerdings zu lang war für die kleinen Kärtchen am großen Zeh. Zudem brachte das Kürzel eine angenehme Distanz zu den Klienten und, was noch viel wichtiger war: zum Tod. Schließlich waren Pathologen auch nur Menschen.
„Vor allem jetzt im Ruhestand“, dachte er sich, als er gerade wieder aufwachte. Kurz davor war er eingenickt über dem Versuch, seine Memoiren zu schreiben. Was sich als deutlich anstrengender herausstellte als angenommen und ihn regelmäßig zum Fluchen brachte. Bei einer Flasche Lagrein hatte er sich dazu überreden lassen. Er war zu sehr der Korrektheit verpflichtet, immer schon. Sonst wäre er wohl auch nie Chef der Pathologie in einer Provinzhauptstadt geworden. Versprochen ist versprochen.
Für große Memoiren hätte sein Leben eigentlich nicht gereicht. In der Rolle des Leichenbeschauers im öffentlichen Dienst in der Provinz wurde er zwar manches Mal zu lokal aufsehenerregenden Fällen gerufen: Unfälle, Morde oder Leichenfunde, alles jedoch global und gesamtwissenschaftlich betrachtet absoluter Kleinkram, nichts, mit dem man auf internationalen Kongressen glänzen konnte. Wäre da nicht vor zweieinhalb Jahrzehnten ein Urlauberpaar auf einem Gletscher vom Weg abgekommen und hätte damit sein zukünftiges UO 1228 beim Auftauen gestört. Durch diesen Fund war der Pathologe im letzten Karrieredrittel zum Mumienexperten wider Willen geworden. Darüber konnte er immer noch nur den Kopf schütteln.
Nach einigen Wochen der Auseinandersetzungen wegen der Staatsangehörigkeit einer Leiche, die aus einer Zeit stammte, in der es noch keine Staaten gab, hatten einige Meter Steine, Schnee und Eis den Lebensweg des Pathologen geändert.
Für die moderne Weltordnung und die lokale Verwaltung hieß es zunächst abzuklären, warum der Tote so tot war und nicht ordnungsgemäß verwest in einem Friedhof. Hinzu kamen die meldeamtlich absolut notwendigen Merkmale wie: „Seit wann?“ und die primäre Katalogisierungs-Frage: „Wer ist das überhaupt?“ Die Frage nach dem Todeszeitpunkt war dank moderner Technik am einfachsten zu klären. Er lag über 5300 Jahre zurück. Das wiederum machte aber zusätzliche Feststellungsnotwendigkeiten schwieriger. Sämtliche Fragen rund um die Leiche beflügelten nicht nur die Medienfantasien rund um den Globus, sondern sämtliche Wissenschaftszweige der Archäologie, der Medizin und aller verwandten Hilfswissenschaften. Mit der Zeit war die Sache auch für den Pathologen zu einer Passion geworden.
13,5 × 20 cm | 200 Seiten
ISBN: 978-88-7283-606-4
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