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Corrado Falcone

Der Bozen-Krimi: Herz-Jesu-Blut

Leseprobe

Eins

Das Böse schlich mitten in der Nacht vom Schlern an ihrer Hütte vorbei hinunter ins Tal nach Kompatsch und Seis. Sie schlug die Augen auf. In langen Zügen atmete sie den Druck vom Herzen weg, während sich Schweiß auf ihre Stirn legte und sie in die Dunkelheit starrte. Längst hatten in ihrer Vorstellung die Schlernhexen als Verkörperung des Bösen ausgedient, denn es besaß weder eine Gestalt noch ein Gesicht. Das Böse schien ein Vagabund zu sein, ein Streuner. Es wohnte unter den Menschen und niemand wusste, wann es wieder zuschlagen würde, ohne Vorwarnung in der Nacht, aber auch am Tag. Sie hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn es sie diesmal mitnähme, denn es umgab sie schon zu lange, viel zu lange. Sie sehnte sich nur noch nach Ruhe. Das Böse war kalt und stumm wie ein Berggrat. Der einzige Laut, den sie jetzt vernahm, war das dumpfe Schlagen ihres Herzens, der ihr verriet, dass die Zeit entgegen ihres Gefühls im immer gleichen Takt verging. Gegen die Sehnsucht, die sie unablässig in jeder der mehr als sechstausend Nächte heimgesucht hatte, war kein Kraut gewachsen und kein Vergessen stellte sich ein. Nichts heilte die Zeit. Sie wusste nicht, ob sie sich eher eine schreckliche Gewissheit als eine zarte Hoffnung wünschen sollte, aber am meisten sehnte sie sich danach, endlich aus diesem Albtraum zu erwachen, ihn wie einen alten Lumpen abzustreifen. Ihre Erfahrung sagte ihr, dass sie ohnehin nicht mehr in den Schlaf zurückfinden würde. Nicht hier, nicht in ihrem Bett. Zu oft hatte sie erlebt, dass sie sich vergeblich von der einen auf die andere Seite wälzte, gepeinigt von der Wachheit, um dann am Morgen wie geprügelt aufzustehen, um die Kühe zu melken, die sie gleichgültig aus ihren großen Augen anglotzten.

Langsam erhob sie sich, fuhr in die Filzpatschen und schlurfte zur Tür, öffnete sie und trat auf den kleinen Flur. Sie war jetzt vierundfünfzig Jahre alt und bewirtschaftete seit vierunddreißig Jahren den Bergbauernhof, den sie von ihren Eltern geerbt hatte. Ihr ganzes Leben hatte sie hier zugebracht, wie sollte sie den Weg da nicht sogar bei geschlossen Augen finden? Ihre harte, rissige Hand berührte die abgegriffene Türklinke. Eigentlich wollte sie nicht mehr mitten in der Nacht hier stehen. Eigentlich wollte sie damit aufhören. Schluss machen! Eigentlich ... Doch dann drückte sie wieder und wie immer sehr sanft und mit schlechtem Gewissen die Klinke nach unten, öffnete die kleine Holztür und betrat das Zimmer, während ihr Kopf Schutz und auch Vergebung zwischen ihren Schultern suchte. Nun spürte sie die Last der Schuld ganz. Während sie das Zimmer betrat, das nicht das ihre war, gab eine tiefschwarze Wolke den Mond frei und Licht floss in die kleine Stube, legte sich wie ein Grauschleier auf den kleinen Schreibtisch an der Wand, auf die Poster von den Männern und Frauen in Showkleidung, die Namen wie Whitney Houston, Jennifer Lopez, Britney Spears, Robby Williams trugen, Namen, die ihre Tochter erwähnt und die sie sich nie gemerkt hatte. Selbst den knallbunten Aufklebern auf dem schmalen Schrank, der sich zwischen Ecke und Tür langmachte, raubte das kalte Licht des Mondes die Farbe, als hätten sie zu lange im Wasser gelegen wie eine Leiche. Links von ihr stand das Bett, in das sie sich nun katzenhaft geschmeidig und überraschend schnell legte. Erleichtert stellte sie fest, sie nicht geweckt zu haben. Sanft kuschelte sie sich an, genoss die Nähe und hauchte mit ihrer harten, kantigen Aussprache: „Nacht, Evchen, Nacht. Und schlaf gut, schlaf gut.“

Der Bozen-Krimi: Herz-Jesu-Blut
Prezzo Online:Euro 12,90
Base price with tax
Prezzo Copertina:  Euro 12,90
franz. Broschur
13,5 x 20 cm | 320 Seiten
ISBN: 978-88-7283-591-3