Hast du dich nie gefragt, warum die Sonnenblumen ihre Köpfe in dieselbe Richtung drehen? Und warum sie diese nach unten senken und nicht, wie beispielsweise die Knoblauchblüten, schnurgerade nach oben halten? Einst streckten auch die Sonnenblumen ihre Blütenhäupter hinauf in den Himmel, mal hier und mal dorthin. Aber eines Tages …
… wurde in einem Dorf ein Kuppler beauftragt, die Heirat zwischen einem älteren Mann und einem jungen Mädchen zu arrangieren. Es war gerade zwanzig Jahre alt, sehr hübsch, so schön, dass selbst der Priester in der Kirche es immer verstohlen anschaute. Es kam aus sehr ärmlichen Verhältnissen. Er hingegen war ein Witwer und bereits um die sechzig Jahre alt; die ersten Zeichen des Alterns waren ihm bereits anzusehen. Eine besondere Eigenschaft hatte er allerdings: Er war stinkreich. Das Mädchen aber konnte ihn und seine verschwenderischen, abgeschmackten Gefälligkeiten ganz und gar nicht ausstehen. Und jeder im Dorf wusste, dass sie bereits einen anderen liebte, es war ein Bursche, der gerade seinen Militärdienst ableisten musste. Auch er war sehr arm, aber er war sehr fesch, ja er war ein Bild von einem Mann, ich bin sicher, er würde auch dir gefallen. Die Eltern des Mädchens sahen den Heiratsplänen des Kupplers froh gestimmt entgegen. Sie rechneten nämlich damit, dass ihr zukünftiger Schwiegersohn nach der Hochzeit alle möglichen Anschaffungen tätigen würde, beispielsweise neue landwirtschaftliche Geräte kaufen, und die alten, aber noch gut erhaltenen ihnen überlassen würde. Auch der Bräutigam war überglücklich. Stolz erzählte er im Dorf jedem von seinen Heiratsplänen mit dem Mädchen. Dieses wollte davon absolut nichts wissen, auch wenn die Mutter es mit allen möglichen Argumenten zu überzeugen versuchte. „Lieber trete ich in ein Kloster ein!“, rief die Tochter. Auch der Kuppler versuchte das Mädchen zu beschwatzen. Vergeblich. Der Vater probierte es mit strengeren Tönen. Auch der Priester redete auf sie ein. Doch es war, als ob sie allesamt gegen eine Mauer reden würden. Eines Tages erhielt das Mädchen einen Brief von ihrem Liebsten. Darin stand, dass er sich in eine andere verliebt habe und diese nach Beendigung seiner Soldatenzeit heiraten wolle. Das war ein schlimmer Schlag für das Mädchen. Sie konnte ja nicht wissen, dass das alles nicht stimmte und der Brief vom Kuppler geschrieben worden war. Das Mädchen war fast schon beim Aufgeben.
Da ging sie einmal nach dem Kirchenbesuch heimwärts, der Weg führte an einem Sonnenblumenfeld vorbei. Es gehörte dem Kuppler. Er war gerade beim Ernten der Sonnenblumen. Da sah er – ohne dass sie es merkte –, wie sie stehenblieb, um die nach unten gerutschten Strümpfe wieder über ihre wohlgeformten Schenkel hinaufzuziehen. Er war wie vom Blitz getroffen! Trotz seines vorgerückten Alters verliebte er sich Hals über Kopf in sie, es war fast so, wie es in der biblischen Geschichte von den beiden alten Männern und der keuschen Susanna erzählt wird. Er trat aus dem Sonnenblumenfeld heraus auf den Weg, grüßte das Mädchen mit hochrotem Gesicht und lud sie zu sich nach Hause ein, um ein wenig über ihren Bräutigam zu reden. Sie dachte sich nichts dabei und ging mit ihm mit. Plötzlich packte er sie grob und zog sie hinein ins Sonnenblumenfeld, wo niemand sie sehen konnte, und überwältigte sie. Doch das, was er mit ihr vorhatte, gelang ihm nicht so leicht. Mit allen Kräften, aber ohne einen Ton von sich zu geben, wehrte sich das Mädchen gegen ihn, denn ihr war klar, würde sie um Hilfe schreien, wüssten bald alle Leute im Dorf davon, und ihr Ruf wäre dahin. Nur das Keuchen und Stöhnen der beiden miteinander Kämpfenden war zu hören. Die Sonnenblumen mussten zusehen, wie der Alte das Mädchen befummelte, wie er sie grob an sich zog und versuchte, auf den Boden zu drücken, sie sahen seine unverschämten Küsse und schmutzigen Liebkosungen … Da drehten sie ihre Köpfe angewidert auf die andere Seite. Als das Mädchen einige Zeit später siegreich das Feld verließ, senkten alle Blumen ihre Häupter, als Zeichen der respektvollen Bewunderung … und nie mehr erhoben sie ihre Köpfe.
Du kannst dir sicher denken, dass das Mädchen nicht den alten Witwer geheiratet hat, sondern ihren schneidigen Burschen, als er vom Militär nach Hause kam. Sie lebten glücklich und zufrieden, trotz ihrer Armut, und bekamen viele Kinder, es heißt, es seien fünfzehn an der Zahl gewesen. Ein Sohn wurde Priester und einer Mönch, drei Töchter traten ins Kloster ein. Drei Töchter und fünf Söhne heirateten, ein Sohn und eine Tochter blieben ledig, so weiß es die Geschichte …
Motta, Sandro, Ul fiur l’è amur, Cattaneo Editore, Oggiono/Lecco, 1992, S. 187, übersetzt und nacherzählt
16,5 × 23,5 cm | 336 Seiten
ISBN: 978-88-7283-634-7
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