In der ladinischen Sagenwelt heißen die im Wald und im Gebirge lebenden Zwerge Salvans. Werden sie von den Menschen geachtet, erweisen sie sich als hilfreich, geben den Bauern gute Ratschläge, hüten deren Schafe oder Kühe oder helfen bei anderen Arbeiten mit. In manchen ladinischen Tälern tragen sie laut Volksüberlieferung rote Kleidung, so wie ihnen überhaupt Freude an bunten Tüchern nachgesagt wird. Wenn man ihnen ein solches Tuch verspricht, arbeiten sie hart, um es sich zu verdienen.
Im ladinischen Fassatal half einmal ein Salvan einen ganzen Sommer lang bei der Heumahd oben auf der Alm, und zum Lohn erhielt er ein rotes Tuch. O wie freute er sich darüber! Er sprang über die Felsblöcke, die da oben herumlagen, über die Zäune der Weiden, bis hin zum Waldesrand. Die Bauersleute schmunzelten darüber, sie hatten ja keine Vorstellung, wie wertvoll so ein rotes Tuch für einen Salvan war. Am Waldesrand saß eine junge Schafhirtin. Oft schon hatte der Salvan sie aus der Ferne beobachtet, denn sie gefiel ihm sehr. Nun ging er zu ihr hin und breitete das Tuch vor ihr auf dem Gras aus. „Schau“, sagte er zu ihr, „dieses Tuch habe ich mir verdient und ich will es dir schenken und dich fragen, ob du mich heiraten willst.“ Die Hirtin schaute ihn erst ganz erstaunt an, dann drehte sie sich von ihm weg und gab ihm nicht einmal eine Antwort. Dieses hochmütige Verhalten des Mädchens kränkte den Salvan über alle Maßen. Voller Zorn trat er auf das Tuch und rief: „Verflucht soll dieser Berg sein mit all seinen Wiesen, Weiden und Almen! Alles soll rot werden, rot wie mein Tuch hier!“ Dann stapfte er hinauf auf den Gipfel des Berges. Noch am selben Tag breitete sich eine ungeheure Menge von Alpenrosensträuchern über die Alm und die Weiden aus und überwucherte alle saftigen Gräser, Blumen und Kräuter. Der ganze Berg verwandelte sich für immer in ein rotes Meer von Alpenrosen. Der Salvan aber blieb von nun an oben auf dem Berg, auf dem Piz del Salvan. Wehe aber, wenn die Menschen ihn in seinem einsamen Reich da oben stören! Dann schleudert er Steine und Felsen auf sie hinab. Deshalb wagt sich kaum noch jemand in diese einsame Bergwildnis.
Nur wenn zwei sich von ganzem Herzen lieben und da hinaufwandern, lässt er sie in Frieden. Dann versteckt er sein Gesichtchen in seinem roten Tuch und zieht sich in seine Höhle zurück.
(Wolff, Karl Felix, Dolomitensagen, Athesia Verlag, Bozen, 19. Auflage, 2009, S. 92 sowie Rossi, Hugo von und Kindl, Ulrike, Märchen und Sagen aus dem Fassatale / Le Dolomiti nella Leggenda, Editrice FK, Caselle di Sommacampagna, 1993, 59, nacherzählt)
16,5 × 23,5 cm | 336 Seiten
ISBN: 978-88-7283-634-7
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